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Ein einsame Person geht durch einen engen hellen Gang

Rückkehr von den Toten: Lazarus-Figuren in Nachkriegsliteratur

Ein DFG-Forschungsprojekt aus dem Institut für Romanistik

Lazarus von Bethanien ist eine biblische Figur, die laut Johannesevangelium vier Tage nach seiner Beisetzung durch Jesus von den Toten wieder auferweckt wurde. Faszinierend ist diese Figur bis heute vor allem deshalb, weil es sich bei dem Erweckungsvorgang eben nicht um eine Wiedergeburt, Geistererscheinung oder Zombie-Gestalt handelt, sondern um eine richtige Auferweckung. Prof. Dr. Ursula Hennigfeld aus dem Institut für Romanistik untersucht in ihrem aktuellen DFG-Projekt "Lazarus - Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts" historische Kristallisationspunkte, an denen sich Lazarus-Figuren in ungewöhnlicher Weise in der Literatur häufen.

Lazarus - nach wie vor eine populäre Figur

Die Anziehungskraft des von den Toten Zurückgekehrten strahlt bis in die heutige Populärkultur aus und ist überaus präsent. Besonders häufig erscheint die Lazarus-Figur in Science-Fiction-Filmen, Psychothrillern und Serien, so zum Beispiel in den Filmen „Outland – Planet der Verdammten“ von 1981, „Das Lazarus Projekt“ aus dem Jahre 2008, in der ab dem Jahre 2005 entstandene Mysterie-Serie „Supernatural“ oder auch in der seit 1963 produzierten Langzeitserie „Dr. Who“. Auch innerhalb der populären Musik ist das Motiv Lazarus immer wieder ein Thema. Bands wie Procupine Tree und The Boo Radleys, aber auch David Bowie haben der Lazarus-Figur einen Titel gewidmet. Selbst in Physik, Ökologie und Paläontologie spricht man - mit jeweils unterschiedlichen fachlichen Bedeutungen, jedoch mit dem gemeinsamen Thema der Wiedererweckung - von sogenannten „Lazarus-Effekten“.

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist für Menschen sehr faszinierend und zugleich auch angsteinflößend – unabhängig davon, in welcher Zeit oder Kultur sie leben.

Prof. Dr. Ursula Hennigfeld, Projektleiterin

Zentrale Forschungsthese: Lazarus-Figuren stehen für gesellschaftlich latente und noch ungelöste Probleme

Nicht nur in der Populärkultur kommt Lazarus bis heute immer wieder vor, sondern auch in literarischen Texten. In dem aktuellen DFG-Projekt „Lazarus – Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts“ untersucht Ursula Hennigfeld historische Kristallisationspunkte, an denen sich die Lazarus-Figuren in ungewöhnlicher Weise innerhalb der spanischen, italienischen und französischen Literatur häufen. Insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von 1945 bis etwa 1960 finden sich in Frankreich, Spanien und Italien ungewöhnlich viele Lazarus-Figuren – in Gedichten, Romanen, Theaterstücken und literaturtheoretischen Texten. Die zentrale These des Forschungsprojekts lautet, dass diese Lazarus-Figuren für gesellschaftlich latente Probleme stehen, die noch nicht öffentlich diskutiert und versprachlicht werden können. Erforscht wird, wie in Schwellenphasen wie beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe dieser Lazarus-Figuren traumatische Erfahrungen zum Ausdruck gebracht werden, die sich einer einfachen Versprachlichung entziehen, an die Grenzen des Vorstellbaren rühren und (zunächst) nur im Medium Literatur sagbar sind. Dazu gehört auch die gesellschaftlich drängende Frage der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie Kriegsheimkehrer, KZ-Überlebende und Folteropfer wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Forschungsgegenstand sind auch die in fiktionaler Literatur indirekt verhandelten Themen wie Kollaboration, Schuld und Verantwortung, Geschichtskonstruktionen und staatliche Gedächtnispolitik. Im Zentrum der untersuchten Texte stehen Opfer von Verfolgung, Terror, Krieg und Vernichtung, die im öffentlichen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegsjahre eher verdrängt werden und offiziellen Siegerdiskursen oder nationalstaatlichen Mythenbildungen widersprechen.


Fünf Fragen - Fünf Antworten

Im Gespräch: Prof. Dr. Ursula Hennigfeld, Projektleiterin des DFG-Forschungsprojekts "Lazarus - Literarische Latenzen in romanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts" und Leiterin des Spanien-Zentrums (SpaZ).

Ich habe über den französischen Autor Jean Cayrol geforscht, der das KZ Mauthausen überlebt hat und 1950 einen Essay veröffentlicht, in dem er eine „lazarenische Literatur“ fordert. In seinem Umfeld habe ich immer mehr Lazarus-Figuren gefunden, in französischen Romanen, Theaterstücken, Lyrik und Literaturtheorie. Das hat mich fasziniert und war noch nicht erforscht – da wollte ich der Sache auf den Grund gehen.

Ja, das ist sehr interessant. In Frankreich sind es vor allem Autoren, die Mitglied der Kommunistischen Partei waren, in der Résistance gekämpft haben, später dann gefoltert, verhaftet oder deportiert wurden. Hier sind die alle Gattungen vertreten. In Spanien tauchen die Lazarus-Figuren vor allem in der Lyrik auf. Und zwar bei Autoren, die im Spanischen Bürgerkrieg oder während der Franco-Diktatur ins Exil geflohen sind. In Italien ist die Lage komplexer: Hier verwenden sowohl Gegner wie Sympathisanten des Faschismus die Lazarus-Figur. Gemeinsam ist allen drei Ländern, dass die Autoren nicht besonders religiös sind.

Ich habe auch nach dem Ersten Weltkrieg etliche Lazarus-Figuren gefunden. In Lateinamerika gibt es sehr spannende literarische Texte, die in den 1940er/1950er Jahren die Militärdiktaturen und die sogenannten desaparecidos antizipieren. Ein weiter zurückliegender Kristallisationspunkt scheint der Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit zu sein – dazu möchte ich gerne demnächst ein neues Forschungsprojekt beantragen.

Die Grenze zwischen Leben und Tod ist für Menschen sehr faszinierend und zugleich auch angsteinflößend – unabhängig davon, in welcher Zeit oder Kultur sie leben. Nie ist jemand aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und hat davon erzählt – außer im Mythos. Das ist ein ideales Betätigungsfeld für die Fiktion. Meine These ist, dass populäre Lazarus-Figuren gesellschaftlich latente Ängste aufgreifen, z.B. die Angst vor massenhafter Zuwanderung wie in The Revenants oder die Angst vor der Zerstörung des Planeten wie in Interstellar.

Man könnte z.B. an den antiken Orpheus denken. Sicher haben auch Werwölfe, Zombies, Gespenster, Vampire usw. mit kollektiven Urängsten zu tun – aber sie funktionieren anders als die Lazarus-Figuren.


Bild im Text: Museum der bildenden Künst, Leipzig: Jacopo Tintoretto, Auferweckung des Lazarus. Unveränderte Darstellung. Fotograf: Dguendel, CC-Lizenz und Originalbild via Wikimedia Commons.

  • Weitere spannende Forschungstätigkeiten der Philosophischen Fakultät finden Sie hier.

Autorin: Andrea Rosicki

Verantwortlichkeit: