Auf einen kurzen Kaffee mit ...
Dr. Věra Leininger vom Institut für Jüdische Studien
Věra Leininger ist in Prag geboren und von dort kurz nach ihrem Abitur über Österreich nach Deutschland geflohen. Von dem ehemaligen Regierungspräsidenten Antwerpes bekam sie die Erlaubnis, an der Kölner Uni zu studieren, musste aber vorher ein Jahr das Studienkolleg besuchen, in dem junge Menschen aus der ganzen Welt zusammengewürfelt waren. Das hat sie damals sehr geprägt. Sie hat im Anschluss dann Judaistik, Osteuropäische Geschichte, Mittlere und Neuere Geschichte und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Köln studiert. Die erste Seminararbeit hat sie über das Warschauer Ghetto geschrieben. Im Martin Buber Institut in Köln war sie nach ihrem Magisterabschluss als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und ist an der Universität zu Köln mit einer Dissertation über die Juden in Prag im 19. Jahrhundert promoviert worden. Ihre Forschung hat sie wieder in ihre Geburtsstadt Prag zurückgeführt. In den Prager Archiven hat sie vor allem Rechtsakten über den Alltag der Juden in Böhmen gesichtet. Nach der Promotion hat sie eine Kurzausbildung zur Drehbuchautorin in Köln absolviert und wurde direkt von einer Filmproduktionsfirma für die englischsprachige Abteilung übernommen. Nach einem Jahr Drehbuchlesen für Hollywood entschied sie sich, für ein Jahr nach Singapur zu gehen. Letztlich blieb sie dort acht Jahre, in denen sie in der Film- und Kunstszene gearbeitet habe. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland war sie drei Jahre am Institut für Jüdische Studien an der HHU als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und hat danach als selbständige Autorin geschrieben und übersetzt, wie z. B. „Das Gebet für Katerina Horowitz“ des tschechisch-jüdischen Holocaust-Überlebenden Arnošt Lustig, das als Reisetheaterspiel in Tschechien, Polen und Ostdeutschland und Bayern gezeigt wurde. Auch sein letztes Interview hat sie ins Deutsche übersetzt, ein ethisches Manifest über Anständigkeit und menschliches Verhalten. In diesen Jahren kam sie auch als Kandidatin für die Stelle des Direktors der Gedenkstätte Theresienstadt in die engere Auswahl, hat einen Antrag beim European Research Council Projekt in Brüssel über „Juden, Neophyten und Rabbiner“ verteidigt, und hatte verschiedene Ausstellungen ihrer Bilder in Prag, in der alten Synagoge in Lieben und in Köln, wo sie wohnt. Seit 2020 arbeitete sie zusammen mit Dagmar Börner-Klein in dem DFG Projekt zur jüdischen Bibelauslegung im Mittealter wieder an der HHU.
Derzeit trinkt Věra Leininger am liebsten „kopi jahe“, einen mit Rohrzucker gesüßten jawanesischen Kaffee mit frischem Ingwersaft und Nelken oder einen starken Espresso – mit wenig Zucker.
Ich arbeite an dem äußerst spannenden Projekt über Raschi und Jalkut Schimoni mit. Raschi ist bis heute einer der bekanntesten jüdischen mittelalterlichen Kommentatoren der hebräischen Bibel und des Talmuds. Der Jalkut Schimoni ist ein umfangreicher Kommentar zur gesamten hebräischen Bibel, der zwar viel benutzt wird, aber dessen Datierung und Autorenschaft bis heute nicht eindeutig geklärt sind. Wir sind dabei, die Texte inhaltlich zu vergleichen und auswerten und die fachliche Diskussion, die im 19. Jahrhundert über diese Texte begonnen hat, zu sichten und zu interpretieren. Das hat mich nun wieder nach Prag zurückgeführt, denn einer den ersten Vertreter der Wissenschaft des Judentums, der Prager Oberrabbiner Salomon Jehuda Leib Rapoport, hat eine Datierung des Jalkut vorgeschlagen, die dann breit unter den damaligen Fachkollegen diskutiert wurde. Rapoport war eine äußerst umstrittene und zugleich außergewöhnlich begabte Persönlichkeit mit einem profunden Wissen über die mittelalterliche jüdische Traditionsliteratur, dessen Forschung später trotzdem oder gerade deshalb von der Forschung bis auf Ausnahmen verdrängt wurde.
Bleibt für alle Wege offen, absorbiert alles, was ihr könnt und lasst euch dabei nicht von der Menge der Information abschrecken. Lest so viel wie möglich, schaut euch Filme an, hört euch Geschichten an, betrachtet Informationen kritisch. Stellt Fragen!
Dort hinzuziehen, war zunächst einfach eine Suche nach etwas Neuem, und als ich dort ankam, war es Liebe auf den ersten Atemzug. Neben der bunten und faszinierenden Gesellschaft ist Singapur zugleich perfekt funktionierend; die Steuererklärung dauert 20 Minuten. Ich war begeistert und blieb. Ich hatte eine kleine eigene Medien Firma und unterrichtete gleichzeitig „Drehbuch“ an der Australischen Medienschule. Zudem hatte ich schnell viele Kontakte zur dortigen Film- und Fernsehszene, in der damals vor allem ganz jungen Leuten mit verschiedensten kulturellen Hintergründen unterwegs waren. Zugleich konnte ich Einfluss nehmen, z. B. auf eine Klasse malaiischer Jugendlicher, die aus Unwissen, was Nationalsozialismus ist, in Springerstiefeln und braunen Hemden zum Unterricht kam. Denen habe ich die unzensierte Version des Films „American History-X“ gezeigt und sie zum Weinen gebracht. Danach kamen sie in normaler Kleidung zum Unterricht. Bis heute habe ich sehr viele Freunde in Singapur, mit denen ich Kontakt halte. Nicht zuletzt ist Singapur durch die Geburt meines Sohnes dort zu einer weiteren, dritten Heimat geworden.
Das waren ganz unterschiedliche Projekte: Mein erstes Drehbuch erzählt die Geschichte eines jüdischen Sektierers. Es ist zwar noch nicht verfilmt worden, historische Filme zu produzieren war und ist ziemlich teuer, aber ich konnte mich in den USA in einigen Wettbewerben – relativ gut damit platzieren. In Singapur habe ich im Auftrag eine schwarze Komödie über ein Ehepaar geschrieben, das sich gegenseitig umbringen will, die als Vorlage für einen Piloten in Mandarin genommen wurde. Ich habe auch an einem Drehbuch über die Geschichte des Fußballs in Singapur mitgeschrieben, der Film ist sehr großzügig vom Staat unterstützt worden. Auf Eis liegt noch ein Pilot über eine Jüdin in Prag in der Zeit der napoleonischen Kriege. Als Grundlage dazu dienen authentische Briefe eines Liebespaares, die ich in einem Prager Archiv gefunden habe.
Ich habe Mittlere und Neuere Geschichte studiert, und kenne mich sehr gut in der Zeit der Anfänge der Wissenschaft vom Judentum im 19. Jahrhundert aus und diese Fachkompetenz passte sehr gut zum Projektprofil.
Ich hatte mehrmals die Gelegenheit, mit Studierenden der Jüdischen Studien an der HHU Exkursionen nach Prag durchzuführen und ihnen vor Ort nicht nur die tausendtürme Stadt, die barocken Bibliotheken und die Museen zeigen, sondern auch mit ihnen in die Archive zu gehen. Den Studierenden in einem Archiv vor Ort handgeschriebene Quellen zu zeigen, hat mir große Freude bereitet. Eine schöne Zeit war auch, als ich eine Gruppe von Studierenden im Studium universale in „Kreatives Schreiben und Malen/Zeichnen“ unterrichtet habe. In diesem Rahmen sollten Geschichten über Düsseldorf geschrieben werden, und daraus ist ein Buch mit Illustrationen entstanden. Für fast alle war das die erste Veröffentlichung ihres Lebens. Die Dynamik im Kurs und Begeisterung der Teilnehmer*innen war auch ein tolles Erlebnis für mich.
In Zukunft werden sich Studierende, die sich für ein Spezialthema interessieren, für das es nur einen oder ganz wenige Spezialist*innen gibt, weltweit elektronisch in den Unterricht dieser Spezialisten setzen können. Die Teilnahme an den Veranstaltungen ist (gebühren-)frei und wird an der Heimatuni ohne Probleme für den Studienverlauf akzeptiert. Die Studierenden sind in der Uni nicht an dem Erwerb von Punkten, sondern an Bildung interessiert, und dafür stehen ihnen alle Mittel frei zur Verfügung: Alle Literatur ist online frei für alle überall abrufbar, ebenso frei wählbar sind einführende online-Tutorials zu den wissenschaftlichen Methoden der Fächer und den Einleitungsfragen.
Mich faszinieren die Ideen, wie wir unsere Welt interpretieren, auch die Stereotypen und Paradigmen, die sich Menschen schaffen, um die Welt „in den Griff“ zu bekommen. Mich inspirieren die normalen „kleinen“ (eigentlich großen) Menschen, die versuchen, ihr Leben trotz allen Widrigkeiten des Schicksals gut und sinnvoll zu gestalten. Im Judentum ist das die Vorstellung von den Lamedwowniks, den 36 gerechten Menschen, die die Welt durch ihr beispielhaftes Leben erhalten.
Im Zusammenhang mit dem Projekt zu Raschi und dem Jalkut basteln Dagmar Börner-Klein und ich an dem Plan, zu Fuß und/oder per Esel von Mainz nach Troyes zu reisen. Raschi reiste mehrere Male von seiner Geburtsstadt in der Champagne nach Mainz, wo er in einer Rabbinerschule studierte. Aber wie reiste er, welche Wege nahm er? Reiste er in Begleitung, in einer Gruppe oder allein? Was nahm er mit? Bücher, die zu der Zeit teuer und ein mögliches Beutegut waren? Wie lange dauerte es, wie gefährlich war es? Wo waren die Stationen für Übernachtung oder fürs Essen? Wir sind sehr gespannt, wie sich das entwickelt.
Kunderas Erstlingswerk „Der Scherz“, den Roman von Jan Faktor, „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“, „Die Fassade“ von Libuše Moníková, die Singapur-Krimis von Ovidia Yu, „The Frozen Rabbi“ von Steve Stern und „The Jewish Messiah“ von Arnon Grünberg ... und … und ...
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Weitere spanndende Interviews aus der Reihe "Auf einen kurzen Kaffee mit..." finden Sie hier.
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Die Wissenschaftskommunikation der Philiosophischen Fakultät
Autorin: Andrea Rosicki