Eine jiddische Grammatik aus der Sowjetunion
Editionsprojekt Grammatik der jiddischen Sprache: Elye Falkovitsh: Yidish. fonetik, grafik, leksik un gramatik (Moskau, 1940). Ein Forschungsprojekt aus dem Institut für Geschichtswissenschaften.
Das Editionsprojekt ist einem der besten auf Jiddisch verfassten Grammatikwerke des Jiddischen gewidmet, das bislang aufgrund seiner schweren Zugänglichkeit in der jiddistischen Sprachforschung kaum berücksichtigt wurde. Das jiddische Original, heute ein Rarum, ist eines der wichtigsten Nachschlagewerke der jiddischen Grammatik, das deskriptiv sprachliche Phänomene mit normativen Regeln verbindet und anhand zahlreicher Beispiele den Gebrauch nach sowjetischer Standardisierung veranschaulicht. Das von der Thyssen-Stiftung geförderte Editionsprojekt wird von Prof. Dr. Efrat Gal-Ed (Heinrich-Heine-Universität) und Prof. Simon Neuberg (Universität Trier) betreut.
Elye Falkovitsh – Linguist, Kriegsheld, Überlebender der Säuberungen
Elye Falkovitsh (1898–1979) gehörte zu den führenden jiddischen Sprachwissenschaftlern der Sowjetunion. In den 1920–30er Jahren wirkte er an der Ausarbeitung der Sprachreform zur Rechtschreibung und Interpunktion mit. 1929, 1930 und 1936 erschienen seine Lehrbücher für Erwachsene, die als Vorarbeit zu der Grammatik von 1940 betrachtet werden können. Als Pädagoge leistete Falkovitsh einen gewichtigen Beitrag für die Entwicklung der jiddisch-sowjetischen Sprachmethodik. Er beteiligte sich nicht nur an den sprachwissenschaftlichen Debatten, sondern war auch mit vielen jiddisch-sowjetischen Literaten und Kulturaktivisten bekannt und befreundet. Als Freunde und Kollegen im Zuge der stalinistischen Säuberungen nach und nach verhaftet und umgebracht wurden, blieb Elye Falkovitsh verschont. Ob dieser Umstand seinen ›Heldentaten‹ auf den Schlachtfeldern des deutsch-sowjetischen Kriegs zu verdanken ist, bleibt unklar. Er soll 1942 an der russischen Westfront 86 Kameraden gerettet haben, in deutsche Gefangenschaft geraten, von dort geflohen sein und schließlich einen Stützpunkt der Deutschen attackiert haben. Für diese Verdienste wurde ihm im selben Jahr der Lenin-Orden verliehen. Nach einer Kriegsverletzung und seiner Entlassung aus der Armee arbeitete Falkovitsh weiter als Chefredakteur des Moskauer Verlags Emes, bis zu dessen Auflösung 1948 im Zuge der Zerstörung der jiddisch-sowjetischen Kultureinrichtungen. Von da an fand er keine Anstellung mehr und konnte in der Sowjetunion nicht publizieren. Erst ab den 1960er Jahren veröffentlichte er erneut einige Lehrmaterialien sowie Enzyklopädieartikel zur jiddischen Grammatik. Den Höhepunkt seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit bildet fraglos das Lehrbuch und zugleich Nachschlagewerk yidish, 1940, wenige Monate vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, erschienen.
Die erste und einzige umfassende jiddisch-sowjetische Grammatik
Im Unterschied zu den früheren Werken von Falkovitsh ist yidish ein rein theoretisches Grammatikbuch, ohne Übungsmaterial. Es besteht aus vier Teilen – Phonetik, Graphik, Lexik und Grammatik – und liefert eine ausführliche Beschreibung des modernen Jiddisch. Grundlegend für sein Verfahren war die formale Sprachtheorie, die in der sowjetischen Sprachforschung ab den 1920er Jahren dominierte. Die formalistisch synchrone Beschreibung des Sprachsystems ergänzte Falkovitsh durch Passagen zur Geschichte der jiddischen Sprache und zur historischen Entwicklung einzelner Formen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Darstellung von Jiddisch im Rahmen der allgemeinen Linguistik.
Zum Formalismus in der sowjetischen Sprachforschung der 1920er Jahre gehören die umfassende Beschreibung von Formen, inkl. dialektaler Varianten, sowie die Systematisierung von Paradigmen.
Elye Falkovitsh: Yidish. fonetik, grafik, leksik un gramatik. Moskau: emes 1940
Jiddisch-sowjetische Rechtschreibung unterschied sich von dem heute geltenden YIVO-Standard, der in den 1930er Jahren vom Jiddischen Wissenschaftlichen Institut (Wilna) entwickelt wurde, hauptsächlich durch Abwesenheit der Endbuchstaben und durch die phonetische Schreibweise hebräisch- und aramäischstämmiger Elemente, die außerhalb der Sowjetunion wie in den Ausgangssprachen konsonantisch geschrieben wurden.
Die neue Sprachlehre, Japhetitentheorie, Marrismus (nach deren Begründer Nikolaj Marr) ist eine Theorie der Sprachentstehung, die einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Klassenstrukturen und Sprachentwicklung etabliert. Diese Theorie, formuliert in den frühen 1920er Jahren, genoss staatliche Unterstützung in der Sowjetunion bis 1950.
Für unsere Edition wurde der ursprünglich in sowjetischer Orthographie erschienene Text an den modernen YIVO-Standard angepasst. Falkovitshs Grammatik wird im weiteren Kontext jiddistischer Sprachprojekte in und außerhalb der Sowjetunion präsentiert. Nach extensiver Erforschung sprachwissenschaftlicher Publikationen wurde ein Kommentarapparat erstellt, der die Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Verfahren und Ansichten von Falkovitsh und seinen Kollegen auslotet und zugleich als ein Referenzwerk zu den jeweiligen grammatischen Themen dient. Ein Schwerpunkt der Edition ist die jiddisch-sowjetische Sprachforschung, die bis heute aufgrund ideologischer Vorurteile wenig Beachtung findet.
Jiddischer Text, sowjetischer Kontext
Tatsächlich finden sich auch in Falkovitshs Ausführungen zu grammatischen Phänomenen die damals obligatorischen Referenzen auf Nikolaj Marrs neue Sprachlehre. Wie auch andere Lehrbuchautoren führte Falkovitsh inhaltlich ideologisierte Beispiele an, damit seine Grammatik der politischen Kritik standhalten würde. Dennoch steht die Zuverlässigkeit seiner sprachwissenschaftlichen Beobachtungen und Darstellungen außer Zweifel. Das Hauptverfahren des Linguisten ist weitgehend deskriptiv, es erlaubt eine umfassende Darstellung der Vielfalt jiddischer Sprachformen, ohne deren dialektale Varianten zu entwerten. Zugleich war yidish Teil der Bemühung, Jiddisch als offizielle Sprache für die ›jüdische nationale Minderheit‹ in der Sowjetunion zu etablieren, d.h. eine regional und sozial übergreifende Literatur- und Kultursprache zu entwickeln. Das deskriptive Verfahren seiner Grammatik kombinierte Falkovitsh deswegen mit einem sprachregulativen Ansatz. Als Grundlage für die neue jiddisch-sowjetische Standardsprache dienten ihm die Werke klassischer jiddischer Autoren, wie Scholem Alejchem und Scholem-Jankew Abramowitsch, sowie älterer und jüngerer sowjetischer Schriftsteller wie Dovid Bergelson, Perets Markish, Dovid Hofshteyn, Ezre Fininberg oder Arn Kushnirov.
Die neue Edition
Die kurz vor Drucklegung stehende Edition enthält neben dem standardisierten Text von yidish einen umfangreichen linguistischen Kommentar und vier Essays der Herausgeber_innen. Prof. Dr. Efrat Gal-Ed kontextualisiert Falkovitshs Werk kulturhistorisch in einer biographischen Skizze, sie fußt auf Archivmaterialien, Interviews mit Familienangehörigen und Schülern von Falkovitsh sowie Diskursen und Berichten aus zeitgenössischen Periodika. Prof. Dr. Simon Neuberg widmet sich Zitat-Beispielen vormoderner Texte, wie sie Elye Falkovitsh in seinem sowjetischen Sprachlehrbuch verwendet. Dr. Valentina Fedchenko untersucht Falkovitshs linguistisches Verfahren im Rahmen zeitgenössischer sowjetischer Sprachforschung, analysiert Ziele der jiddisch-sowjetischen Linguisten, deren Methoden und theoretische Forschungsbasis. Daria Vakhrushova präsentiert yidish vor dem Hintergrund der pädagogischen Experimente der 1920–30er Jahre und beleuchtet die sowjetischen und jiddischen Besonderheiten von Falkovitshs Grammatik.
Die Neuedition dieser herausragenden Grammatik wird in gedruckter Form sowie als Open-Access-Publikation weltweit zur Verfügung stehen und damit als Nachschlagewerk und Forschungsobjekt den Interessen eines breit gefächerten Publikums dienen: Sprachforscher und Sprachhistoriker, Kulturwissenschaftler, Herausgeber jiddischer Texte und fortgeschrittene Studierende werden es von Nutzen finden.
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