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Was ist Propriozeptive Kunst, kurz „PropArt“?

Aufgefordert, sich ein Kunstwerk vorzustellen, fallen jedem vermutlich zunächst Werke ein, die den visuellen oder auditiven Sinn ansprechen: ein Gemälde, eine Fotografie, oder ein Musikstück. Möglicherweise denkt man auch an audiovisuelle Kunstformen, die beide Sinne zugleich ansprechen, wie z.B. die Oper, das Theater, den Tanz oder den Film. Klar ist, dass klassischerweise in der Kunst das Hören und Sehen dominieren. Vereinzelt mag es auch Kunstwerke geben die das Schmecken, Riechen oder den Tastsinn anregen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind jedoch zunehmend auch Kunstwerke entstanden, die aktiv einen ganz anderen Sinn ansprechen, der vielen vielleicht dem Namen nach unbekannt ist: den Propriozeptions- und Interozeptionssinn.

Die Wahrnehmung des eigenen Körpers

Propriozeption bezeichnet die innere Wahrnehmung unserer eigenen Körperbewegungen im Raum oder die innere Wahrnehmung der Lage unserer Körperteile zueinander; Interozeption umfasst das Schmerz-, Temperatur-, Energie- und Stressempfinden sowie das vestibuläre System (den Gleichgewichtssinn). Kurz gesagt, es geht um die Wahrnehmung des eigenen Körpers von innen. Ein Kunstwerk, bei dessen Rezeption genau und wesentlich diese Aspekte der inneren körperlichen Selbstwahrnehmung angeregt werden, findet sich in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen im Düsseldorfer K21: Tomás Saracenos „In Orbit“ (2013).

Propriozeptives Erleben beim Besuch von ‚In Orbit‘

Saracenos Installation besteht aus mehreren miteinander verbundenen Netzen, die im Atrium des K21 in beträchtlicher Höhe aufgespannt sind. Die Museumsbesucher*innen werden dazu aufgefordert, sich direkt in die Installation zu begeben und sich in ihr zu bewegen, die verschiedenen Ebenen zu erkunden und dabei die Netze durch die eigenen Körper in Schwingung zu versetzen.

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„At the entrance level visitors are invited to crawl over, climb through and otherwise negotiate its space. Once inside, they are incorporated into an expansive ecosystem wherein every participant is equally influential—for each physical presence reverberates throughout the space. […] Visitors adapt to the changing conditions of this sensitively attuned network through improvised movement in consonance with the reverberations and changing tensions produced by others. […] Similar to a spider/web, visitors perceive the presence of others through vibrations[.]“ 
Studio Tomás Saraceno, n.d. - 

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Das Erleben von ‚In Orbit‘ ist also nicht eine rein passive Betrachtung der Installation, der eigene Körper und die Körper-Innenwahrnehmung selbst werden zu einem Teil des Kunstwerks, der Fokus richtet sich auf das propriozeptive sowie interozeptive Empfinden: Gleichgewichtssinn und Balancegefühl werden angesprochen, mitunter steigen Herzschlag und die Atemfrequenz und manches Mal erfolgt auch ein Hitze- und Schweißausbruch. All dies scheint zentraler Bestandteil der Rezeption des Werks zu sein und es stellt sich die Frage: handelt es sich um ein visuelles Kunstwerk, oder könnten wir dies auch als propriozeptive Kunst verstehen?

Propriozeptive Kunst

Saracenos ‚In Orbit‘ ist kein Einzelphänomen, weitere Beispiele für Kunstwerke die aktiv die Körpereigenwahrnehmung ansprechen sind hier zusammengetragen. In Reaktion auf diesen Trend in der Kunstwelt widmet sich ein interdisziplinäres Projektteam um Prof. Dr. Markus Schrenk der Frage „Was ist propriozeptive Kunst?“ und der Untersuchung des Potenzials der Propriozeption für die Wahrnehmung und Erfahrung von Kunst.


Vier Fragen - Vier Antworten

Im Gespräch: das PropArt-Team bestehend aus Prof. Dr. Markus Schrenk , Till Bödeker, Julia Frese, Isabelle Keßels M.A. M.B.A und Juliane Zetzsche.

Für uns ist der Austausch mit Künstler*innen sehr wichtig, um ihre Perspektiven in unsere Forschung miteinzubeziehen, auch wenn viele ihre künstlerischen Praktiken/Arbeiten nicht notwendigerweise als „forschend“ beschreiben würden. Eine sehr spannende Kooperation besteht mit der Ben J. Riepe Kompanie aus Düsseldorf, die in ihren genreübergreifenden Choreographien oft verschiedene Körper- und Sinneserfahrungen sowie philosophische und kulturtheoretische Reflexionen einfließen lässt. Bereits zweimal waren wir Teil von Ben J. Riepes‘ Veranstaltungen und haben an der „Summer School“ mitgewirkt, oder der eigens für Studierende konzipierten „Schule des Erlebens“. Bei letzterer hat auch Till Bödeker, der Teil unseres Forschungsteams ist, mit seinem Kunstwerk „Think Outside The Box“ teilgenommen, das zur interozeptiven/propriozeptiven Erforschung des eigenen Körpers einlädt.

Wichtig ist hierbei zu betonen, dass das, was wir begrifflich als „propriozeptive Kunst“ analysieren, nicht immer mit dem zusammenfallen muss, wie Künstler*innen bewusst ihre Arbeit selbst einordnen, sondern dass das unsere Bezeichnung für dieses Phänomen ist. Gleichwohl sollte der propriozeptive (Kern-)Bestandteil eines Kunstwerkes von der Künstler*in wenigsten implizit intendiert sein, damit es gerechtfertigt ist, dem Werk das Attribut „propriozeptiv“ zuzuschreiben. In diesem Zusammenhang wird unser Ziel, „PropArt“ zu erforschen, vielleicht auch für Künstler*innen interessant oder inspirierend. Wir haben uns jedenfalls bei unseren Vorträgen zu PropArt in Kunstakademien und Galerien, zum Beispiel in den Kunst Akademien in Kassel und Düsseldorf oder auch im Austausch mit einer Gruppe der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart über positive Resonanz freuen können.

Auf jeden Fall! Denken Sie zunächst nochmals an die oben erwähnte Oper: sie ist mindestens ein visuelles und ein auditives Kunstwerk. Genauso können Werke auch visuell und propriozeptiv, oder propriozeptiv und auditiv, etc. sein. Wichtig ist, dass es zur adäquaten Rezeption des Werks essentiell dazu gehört, dass der Propriozeptions- oder Interozeptionssinn angesprochen wird. Die Mona Lisa ist ein (mindestens) visuelles Werk, denn es gehört essentiell zur Rezeption, dass sie gesehen wird. Tritt eine Person mit einer Schlafbrille vor das Werk, dann rezipiert sie nicht das Werk. Übertragen auf PropArt heisst das: Wenn Sie sich nicht selbst in Saracenos Netz begeben und Ihr Gleichgewicht durch Ihren Muskeltonus halten, Ihren Herzschlag spüren, etc. dann haben sie höchstens die visuelle Komponente des auch propriozeptiv zu erfahrenden Werks rezipiert. Aber das Kunstwerk kann gleichzeitig als visuelles und propriozeptives Werk intendiert sein.

Die meisten Kunstwerke sprechen übrigens mehrere Sinnesmodalitäten gleichzeitig an und manche (vorrangig) visuellen Kunstwerke wie Gemälde können auch indirekt unsere Propriozeption/Interozeption ansprechen. Denken Sie an OpArt, die gegebenenfalls Schwindel auslösen soll: eine propriozeptive Erfahrung! Auch primär visuelle Kunst kann also in bestimmten Fällen, vermittelt durch den Sehsinn, auch PropArt sein, wenn die Erfahrung von Propriozeption/Interozeption ein (Kern-)Gegenstand dieses Kunstwerkes ist

Das ist eine gute Frage. Grundsätzlich haben Selbstverletzungen das starke Potential, somatische Reaktionen und Emotionen auch bei anderen auszulösen. Die 1992 durch Giacomo Rizzolatti und Mitarbeiter entdeckten Spiegelneuronen sind hier ein Stichpunkt. Wieder (siehe unser OpArt-Beispiel von oben) ist die Propriozeption indirekt über den Sehsinn vermittelt. Wenn sich die Veränderung der Körperwahrnehmung des Publikums als Kernbestandteil von Flatz Kunst verstehen lässt, dann also ja, dann ist sie PropArt. So ließe sich zum Beispiel Flatz Aktion „Teppich“ vermutlich der PropArt zuordnen: Flatz blockiert in einen Teppich eingenäht einen Durchgang, sodass Besucher*innen über ihn steigen bzw. auf ihn treten müssen. Die vom Publikum empathisch mitgefühlten Körperwahrnehmung, die Flatz‘ dabei empfinden wird, sind wohl für die Performance wesentlich.

Tatsächlich überschneidet sich PropArt in mancher Hinsicht auch mit Body Art, welcher Flatz, Marina Abramović oder Valie Export oft zugeordnet werden. Body Art ist dann zusätzlich PropArt zuzuordnen, wenn die (indirekte) interozeptive/propriozeptive Erfahrung der Rezipienten nicht nur eine Begleiterscheinung ist, sondern ein elementarer, intendierter Gegenstand des Kunstwerkes selbst.

Hier müssen wir zunächst eine wichtige Unterscheidung treffen: es gibt partizipatorische Kunst, in der die Museumsbesucher*innen, d.h. ihre Körper, Bestandteil des Kunstwerks sind. Sie sind das Material, aus dem das Werk besteht, wie etwa das Öl und die Leinwand zur materiellen Grundlage eines Gemäldes gehören. PropArt ist aber mehr: der Körper der Rezipienten dient vielleicht auch als Material für das Kunstwerk, wichtiger ist aber, dass hier (auch) die Eigenkörperwahrnehmung der Rezipienten wesentlich zur Erfahrung des Kunstwerks gehört, genauso wie es gegebenenfalls dazugehört, das Werk in Teilen zu sehen. Die Besuchenden sind Teil des konkreten PropArt Kunstobjekts und ihre Eigenwahrnehmung gehört zur Rezeption dieses Werkes dazu.

Eine besondere Art des propriozeptiven Kunstwerks kann der Tanz sein. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, als ginge es bei der Kunstform Tanz vorrangig um das Visuelle — dann nämlich, wenn wir im Zuschauerraum den Tänzer*innen auf der Bühne zuschauen —, so kann doch die Rezeptionserfahrung von Tanz auch eine ganz andere sein: nämlich, wenn wir selbst die Tänzer*in sind! Dann spielt vielleicht der Sehsinn eine untergeordnete und der propriozeptive Sinn die größte Rolle.


Weitere Informationen zum Forschungsprojekt finden Sie hier: https://proprioceptive.art/

 

Quellenangabe:

1Studio Tomás Saraceno (n.d.): In Orbit. Abgerufen am 05.04. 2022 von https://studiotomassaraceno.org/in-orbit/

 


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