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Die Rolle von Ambivalenz für die Handlungskompetenz suizidaler Personen

Forschungsnetzwerk unter Beteiligung von Dr. René Baston vom Institut für Philosophie

Das wissenschaftliche Netzwerk ‚Die Rolle von Ambivalenz für die Handlungskompetenz suizidaler Personen‘ untersucht interdisziplinär, welche Rolle Ambivalenz für Suizidhandlungen hat. Vereinfach gesagt, beschreibt suizidale Ambivalenz das Phänomen, dass eine suizidale Person sowohl leben als auch sterben will. Während innerhalb der klinischen Psychologie das Phänomen seit langem bekannt ist, steht eine systematische Analyse und Bewertung aus. Es ist beispielsweise unklar, welche strukturellen Aspekte im Geiste eines Akteurs eine suizidale Ambivalenz konstituieren. Ebenfalls ist die Rolle von Ambivalenz für Suizidhandlungen unscharf: möglicherweise ist suizidale Ambivalenz erklärend für abgebrochene Suizide, für spontane bzw. ungeplante Suizide, oder aber essentiell für die Durchführung von geplanten Selbsttötungen. Des Weiteren ist der instrumentelle Wert der suizidalen Ambivalenz für die klinische Psychologie, beispielsweise für therapeutische Zwecke, noch zu klären. Aktuell besteht das Netzwerk aus zwei klinischen Psychologen neun Philosophinnen und Philosophen.1

Suizid und Ambivalenz

Suizid, die absichtliche Selbsttötung, zählt weltweit zu den häufigsten Todesursachen. Laut dem statistischen Bundesamt suizidieren sich in Deutschland ungefähr 9.000 Menschen im Jahr, während es laut WHO Angaben knapp 800.000 weltweit sind. Studien zeigen, dass viele Menschen in ihrem Leben irgendwann einmal Suizidgedanken haben. Ein Team um die Psychologin Carolin Donath von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen legte dazu beispielsweise im Jahr 2014 Daten vor. Die Forscher hatten ungefähr 44.000 Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse zu suizidalen Gedanken interviewt. Knapp vier von zehn Teenagern gaben an, sie hätten bereits einmal über Suizid nachgedacht.

Während Suizidgedanken häufig vorkommen, ist die tatsächliche Anzahl von Suiziden verhältnismäßig gering. Psychologen rätseln seit langem, was genau suizidale Personen, die tatsächlich suizidales Verhalten zeigen, von denjenigen Personen unterscheidet, die nur darüber nachdenken. Ein Phänomen, welches bei eben dieser Unterscheidung eine Rolle spielen könnte, ist die sogenannte suizidale Ambivalenz.

Der Psychologe Edwin Shneidman hat in seinem Buch The Suicidal Mind (1998) behauptet, dass sich suizidale Personen grundsätzlich in einem Zustand von Ambivalenz befinden: „I believe that people who are actually committing suicide are ambivalent about life and death at the very moment they are committing it. They wish to die and they simultaneously wish to be rescued. […] To feel that one has to do it, and, simultaneously, to yearn for intervention” (S. 133). In der Encyclopedia of Suicide (2003) von Glen Evans und Norman Farberow wird suizidale Ambivalenz wie folgt beschrieben: “[ambivalence] is perhaps the single most important psychological concept in the understanding of suicide. Ambivalence can be seen in the person who wants to commit suicide but doesn’t want to, who simultaneously wishes to die even while fantasizing rescue. The ambivalence is so strong that often suicide victims have been found dead, the telephone clutched in their hand” (S. 9).
 

Interdisziplinäre Forschung zu suizidaler Ambivalenz

Während die klinische Psychologie dem Phänomen der suizidalen Ambivalenz eine gewichtige Stellung einräumt, sind viele Fragen offen. So beschreibt beispielsweise der Psychologe Shneidman suizidale Ambivalenz als ein Spannungsverhältnis zwischen der Absicht sich das Leben zu nehmen und der Hoffnung, dass jemand interveniert. Dies illustriert, dass suizidale Ambivalenz auf einem Konflikt zwischen einer Absicht und der mentalen Einstellung der Hoffnung besteht. Andere Psychologen wiederum betrachten Ambivalenz als einen Konflikt zwischen Wünschen. In diesem Sinne hat eine suizidale Person den Wunsch zu leben und gleichzeitig den Wunsch zu sterben. Laut dieser Betrachtung ist also die Suizidabsicht nicht relevant. Eine gründliche Betrachtung der möglichen mentalen Strukturen von suizidaler Ambivalenz deutet darauf hin, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Arten von suizidaler Ambivalenz gibt. Unterschiedliche Typen von Ambivalenz erfüllen möglicherweise unterschiedliche Rollen für Suizidhandlungen und haben möglicherweise einen unterschiedlichen instrumentellen Wert für die klinische Psychologie.

Die philosophische Literatur zu Ambivalenz im Speziellen und zu Motivationskonflikten im Allgemeinen wird im Forschungsprojekt genutzt, um - gemeinsam mit der klinischen Psychologie - verschiedene Arten von Ambivalenz zu analysieren und zu bewerten. In der Philosophie gibt es seit den 70er Jahren eine Debatte um Ambivalenz, wenn auch nicht speziell um suizidale Ambivalenz. Diese philosophische Debatte ist besonders von dem amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt geprägt worden. Für Frankfurt ist besonders wichtig, dass Ambivalenz einen Zustand von praktischer Irrationalität beschreibt. Menschen die gleichzeitig etwas wollen und nicht wollen schaden ihrer eigenen Akteursfähigkeit. Wie könnte man auch in der Ausführung einer Handlung beiden sich widersprechenden Motivationen gerecht werden? Die resultierende Handlung, so Frankfurt, muss daher von Irrationalität und Fehlschlägen geprägt sein. Aktuell wird diese Debatte neu geführt. Der amerikanische Philosoph Justin Coates zum Beispiel, hält Ambivalenz für eine angemessene Haltung gegenüber Handlungsoptionen, die objektiv betrachtet sowohl gute als auch schlechte Aspekte beinhalten. Dementsprechend ist Ambivalenz eine rational begründete Haltung gegenüber solchen mehrwertigen Handlungsoptionen. Diese begründete Haltung erläutert Coates, muss auch keineswegs zu irrationalen Verhaltensmustern oder Fehlverhalten führen.

1 Beteiligte Forschende des Netzwerks:

Aus dem Bereich Psychologie sind Prof. Dr. Thomas Forkmann, Universität Duisburg-Essen und PD Dr. Tobias Teismann von der Ruhr-Universität Bochum am Forschungsprojekt beteiligt. Aus dem Bereich Philosophie komplettieren Dr. Lieke Asma, Hochschule für Philosophie München, Dr. René Baston, Heinrich-Heine Universität, Dr. Daphne Brandenburg, Universität Groningen, Dr. Sabrina Coninx, Universität Amsterdam,  Dr. Sanja Dembic, Humboldt-Universität Berlin, Dr. Zuzanna Aleksandra Rucinska, Universität Antwerpen, Dr. Elizabeth Ventham, Universität Liverpool, Dr. Martin Weichold, TU-Dresden und Prof. Michael Cholbi, Universität Edinburgh das Netzwerk.


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