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Mann schiebt ein Fahrrad an einer U-Bahn in einer U-Bahnstation vorbei

Bürger*innenbeteiligung als Chance für die Verkehrswende? Die Rolle von Partizipation für Qualität und Legitimität politischer Entscheidungen

CIMT – “Citizen Involvement in Mobility Transitions”. Eine vom BMBF-geförderte Nachwuchsgruppe in der Sozial-ökologischen Forschung.

Mobilität ist eine der großen Herausforderungen bei der Transformation zu einer nachhaltigeren Gesellschaft. Der Autoverkehr sorgt nicht nur für rund ein Fünftel der Treibhausgasemissionen in Deutschland, sondern auch für zahlreiche Belastungen durch Lärm, Staus oder Unfälle. Eine Umverteilung des öffentlichen Raums vom Auto hin zu Bus, Bahn, Fahrrad oder Fußverkehr ist daher nicht nur aus ökologischen Gründen dringend geboten. Doch in der Praxis trifft die Verkehrswende regelmäßig auf Widerstände. Inwieweit lassen sich diese Probleme in den Kommunen vor Ort durch die konsultative Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Mobilitätsplanung lösen? Diese Frage untersucht die Forschungsgruppe CIMT unter der Leitung von Jun.-Prof. Dr. Tobias Escher aus dem Institut für Sozialwissenschaften.

Wie kann Bürger*innenbeteiligung zur nachhaltigen Mobilitätsentwicklung beitragen?

Die Forschungsgruppe CIMT erforscht die Potentiale und Probleme von Bürger*innenbeteiligung an der Verkehrswende in deutschen Kommunen. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei lokale (formelle und informelle) Planungsprozesse zum Ausbau nachhaltiger Mobilität. CIMT steht für Citizen Involvement in Mobility Transitions, also Bürger*innenbeteiligung an der Verkehrswende.

Das seit 2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt möchte ein Verständnis dafür entwickeln, wie und unter welchen Bedingungen Bürger*innenbeteiligung einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten kann. Konkret verfolgt die Gruppe drei Forschungsschwerpunkte. Erstens wird untersucht, unter welchen Bedingungen Kommunen durch die Einbeziehung von Bürger*innen die Qualität der politischen Entscheidungen verbessern können, insbesondere hinsichtlich der Nachhaltigkeit der gefundenen Lösungen. Zweitens geht es darum herauszufinden, ob solche Konsultationen an Planungs- und Entscheidungsprozessen die öffentliche Akzeptanz solcher Maßnahmen steigern können. Drittens gilt das Interesse der Gruppe der Entwicklung (teil-)automatisierter Analyseverfahren zur Unterstützung der Evaluation von Beiträgen in Beteiligungsverfahren.

Zur Bearbeitung der Fragestellung forschen die Sozialwissenschaften gemeinsam mit der Stadt- und Raumplanung sowie der Informatik . Die Forschung schließt dabei an die Arbeiten von Jun.-Prof. Dr. Tobias Escher an, der seit mehr als zehn Jahren Beteiligungsverfahren evaluiert, insbesondere im Zusammenhang mit Online-Partizipation.

  • Wer beteiligt sich (nicht) bei kommunalen Konsultationsverfahren?
  • Wer ist im Ergebnis repräsentiert, wer nicht?
  • Haben das Verfahren und/oder die Ergebnisse Auswirkungen auf die Legitimitätseinstellungen?
  • Wie entsteht die politische Entscheidung im Rahmen von Planungs- und Beteiligungsverfahren?
  • Inwiefern beeinflusst die Beteiligung eine politische oder planerische Entscheidung?
  • Tragen verschiedene Beteiligungsformate zur Nachhaltigkeit im Sinne der Verkehrswende bei?
  • Welche Informationen kann man automatisiert in Beiträgen aus Beteiligungsverfahren erkennen?
  • Wie bleibt der Trainingsaufwand für die KI-Modelle gering?
  • Welchen Nutzen hat das für die Praxis?

Enge Zusammenarbeit mit der Praxis vor Ort

Für Forschende im Rahmen der sozial-ökologischen Forschung ist das Ziel, das im Projekt erarbeitete Wissen in der Praxis für die Nachhaltigkeitstransformation anwendbar zu machen. Dafür arbeitet die Forschungsgruppe eng mit den Menschen zusammen, die in der Praxis die Verkehrswende mitgestalten und die dafür nötigen Verfahren durchführen. Konkret hat CIMT fünf verschiedene Planungsprojekte in vier deutschen Städten untersucht:

  • Hamburg: Umbau und Sanierung der Elbchaussee (Planungsabschnitt West) (2019 –2021)
  • Hamburg: freiRaum Ottensen - Einrichtung eines autoarmen Quartiers (2021 –2022)
  • Marburg: MoVe35 – Entwicklung eines Mobilitäts- und Verkehrskonzepts (2020 –2023)
  • Offenburg: OG 2035 – Entwicklung des Masterplan Verkehr (2021 –2023)
  • Wuppertal: Verkehrsuntersuchung Heckinghausen (2020 –2023)

Dafür wurden im Projekt bislang 25 qualitative Interviews mit relevanten Akteuren geführt. Dazu zählen Vertreter*innen der Politik, der Verwaltung und der Zivilgesellschaft. Zum anderen wurden in allen Städten repräsentative Bevölkerungsbefragungen durchgeführt. Darüber hinaus wurden mehrere tausend Vorschläge aus Beteiligungsverfahren kodiert, um diese als Trainingsdaten für die automatisierte Klassifikation von KI-basierten Modellen zu nutzen. Diese Erkenntnisse werden kombiniert mit einer überblicksartigen Auswertung einer eigens dafür aufgebauten Datenbank, die eine Vielzahl der in deutschen Kommunen durchgeführten Beteiligungsverfahren zu Mobilitätsplanungen verzeichnet.

Positive Erfahrungen mit Beteiligungsmöglichkeiten führt zu einem positiveren Blick auf kommunale Demokratie

Erste Erkenntnisse aus dem Projekt zeigen, dass die konsultative Beteiligung der Bürger*innen an der Mobilitätsplanung in den meisten Kommunen noch die Ausnahme ist. Vorreiter sind dagegen sogenannte Leitlinienkommunen, die als besonders beteiligungsaffine Städte die Öffentlichkeit regelmäßig zu verkehrlichen Maßnahmen beteiligen. Allerdings ist Beteiligung nicht gleichbedeutend mit Einfluss: In der Hälfte der von uns untersuchten Verfahren kam es nach der Beteiligungsphase zu keiner politischen Entscheidung, und in den von uns detailliert untersuchten Planungsverfahren hatten die Beiträge der Bürger*innen im besten Fall einen geringen Einfluss auf die am Ende beschlossenen Maßnahmen.

Die Menschen, die sich an kommunalen Konsultationen beteiligen, stehen der Verkehrswende in der Regel positiver gegenüber als die Durchschnittsbevölkerung. Sie fordern in solchen Konsultationen eher weitreichendere Maßnahmen. Gleichzeitig sind sie besonders kritisch gegenüber Politik und Verwaltung, und eher pessimistisch was die Potentiale solcher Beteiligungsverfahren angeht. Erfahrungen aus solchen Prozessen und die Ergebnisse der Planungsverfahren spielen aber eine wichtige Rolle dafür, wie die Bürger*innen die lokale Demokratie vor Ort wahrnehmen. Positive Erfahrungen mit Beteiligung führt tendenziell auch zu positiverer Beurteilung der lokalen Demokratie.

Dafür ist auch die schnelle, faire und effektive Auswertung der in solchen Beteiligungsprozessen gemachten Vorschläge wichtig. Wir konnten zeigen, dass man mit Unterstützung von Methoden der natürlichen Sprachverarbeitung (NLP) tatsächlich die Verwaltung bei der Auswertung unterstützen kann. Solche KI-basierten Modelle können z.B. sehr gut die Verkehrsmittel erkennen, die in einem Beitrag erwähnt werden, oder um welchen Ort es sich handelt. Das kann die mit der Auswertung betrauten Personen unterstützen, indem die Beiträge schon sinnvoll durch die Maschine vorsortiert werden, bevor die finale Abwägung dann durch den Menschen erfolgt. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass man mit bestimmten Ansätzen (Active Learning) auch den Aufwand zum Training solcher Modelle stark reduzieren kann.

 

Bis zum Ende der Förderphase im Oktober 2024 sollen diese und weitere Erkenntnisse unter anderem in Leitfäden einfließen, die beim zielgerichteten Design von Beteiligungsprozessen in der Praxis vor Ort helfen sollen. Außerdem werden die Softwarewerkzeuge zur Verfügung gestellt, die Wissenschaft und Verwaltung bei der Auswertung von Beteiligungsbeiträgen unterstützen. 

Eine laufend aktualisierte Übersicht über diese und weitere Erkenntnisse der Forschungsgruppe finden sich auf der Website des Projekts unter dem Stichpunkt „Ergebnisse“.


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