Zum Inhalt springenZur Suche springen

Johannes Steizinger: "Lebensphilosophie unter Relativismus-Verdacht. Nietzsches und Simmels Antworten"

Aus den Instituten Philosophie Sonstiges
„Lebensphilosophie unter Relativismus-Verdacht. Nietzsches und Simmels Antworten“
Johannes Steizinger

Abstract:

Die Lebensphilosophie war von Anfang an dem Vorwurf ausgesetzt aufgrund eines „bodenlosen Relativismus“ jeglichen Anspruch auf objektives Wissen aufgegeben zu haben. Ihre erkenntnistheoretische Tendenz, Wissensansprüche auf praktische Bedürfnisse des Menschen zurückzuführen, wird dabei oft zu einer Ursache für die geistige Krise der modernen Gesellschaft erklärt, die sich in deren Nihilismus, Zynismus und Anarchie äußern würde—eine philosophische Polemik, die sich sowohl in der bürgerlichen (Windelband) als auch der marxistischen Kulturkritik (Lukacs) findet. Mein Vortrag thematisiert die erkenntnistheoretischen Überlegungen von Friedrich Nietzsche und Georg Simmel vor dem Hintergrund dieser Kritik. Ich werde erstens argumentieren, dass Nietzsches Perspektivismus mit dem Bezug auf das Leben in der Tat einen pragmatischen Wissensstandard einführt, diesen aber objektiv und als Ergänzung zum Wahrheitskriterium verstanden haben will. Zweitens werde ich darlegen, weshalb Simmel den Relativismus zum erkenntnistheoretischen Prinzip erhebt und diesem Kampfbegriff damit eine seriöse Bedeutung geben will. 

Zur Person:

Dr. Johannes Steizinger ist Associate Professor of European Philosophy an der McMaster University (Hamilton, Ontario). Nach der Promotion an der Universität Wien (2012) war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL Berlin (2012-2014) und im ERC Projekt „The Emergence of Relativism“ (PI: Martin Kusch) an der Universität Wien (2014-2019). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die deutsche Philosophie von Hegel bis 1945, die politische Philosophie, die Kulturphilosophie, die Ästhetik, und die philosophische Anthropologie. Derzeit arbeitet er an drei Projekten: ein Buch über Nietzsches Kulturphilosophie für die Cambrigde Elements Series von Cambridge University Press; ein Buch zur Geschichte der Lebensphilosphie von Nietzsche zum Nationalsozialismus; und ein Projekt zum Thema ökonomischer Pluralismus (https://economicpluralism.com/), das die heterodoxen ökonomischen Entwürfe von Philosoph:innen des 19. Jahrhunderts in gegenwärtige Debatten über alternative Wirtschaftsformen einbringen will.

Zur Vorlesungsreihe

Das 19. Jahrhundert ist geprägt von der Entstehung unabhängiger Einzelwissenschaften und einer damit verbundenen Kompartmentalisierung von Erkenntnis: Spezifische Erfahrungsbereiche werden jeweils zum Gegenstand einer für sie mehr oder weniger exklusiv zuständigen Einzelwissenschaft, deren Methoden- und Begriffsinventar sich von demjenigen anderer Disziplinen unterscheidet. Als Kind des 19. Jahrhunderts erwächst die Lebensphilosophie nicht zuletzt in kritischer Absetzung von dieser Tendenz einer Entkopplung der Wissenschaften von anderen gesellschaftlichen Systemen und ihrer Auffächerung in Subdisziplinen und Spezialgebiete. Sie ist, wie Otto Friedrich Bollnow plakativ anmerkt, „durch eine ganz bestimmte Kampfstellung gekennzeichnet“, die sich insbesondere gegen die Vorstellung richtet, der Mensch als philosophierendes Subjekt ließe sich adäquat als Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis erfassen. Über die ,Abstoßbewegung‘ von einseitigen szientistischen und positivistischen Versuchen, das unmittelbare Erleben von Sinnhaftigkeit und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten in formale Kategorien zu übersetzen, hinaus, geben die Vertreter der Lebensphilosophie damit einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung philosophischer Methoden, der etwa in der Phänomenologie oder der Hermeneutik Ausdruck gefunden hat. Vor diesem Hintergrund werden im wöchentlichen Wechsel Expertinnen und Experten der Lebensphilosophie sowohl exemplarische Auseinandersetzungen mit einzelnen Positionen lebensphilosophischen Denkens von Schopenhauer und Nietzsche bis Dilthey und Simmel als auch Kontinuitäten zwischen der Lebensphilosophie und nachfolgenden Strömungen sowie systematische Weiterentwicklungen präsentieren.

Veranstaltungsdetails

19.06.2023, 16:30 Uhr - 18:00 Uhr
Ort: 23.21.U1 Raum 48
Verantwortlichkeit: